Unterwegs mit
Sonja Stöckli und Thomas Furter, Betriebswarte Hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch
Sonja Stöckli und Thomas Furter leben und arbeiten auf fast 3500 m ü. M. Sie sind Betriebswarte der hochalpinen Forschungsstation auf dem Jungfraujoch.
Ein Mittwochmorgen im Juli. Um 7.30 Uhr sitzen wir bereits in der Jungfraubahn vom Eigergletscher zum Jungfraujoch – Top of Europe. Ganz ohne Touristen. In der sogenannten Mitarbeiterverbindung. Vom Koch im Restaurant Crystal bis zur Serviceangestellten im Restaurant Eigergletscher. Von der Mitarbeiterin im Souvenirshop bis zum Handwerker. Alle sind sie hier anzutreffen, die heute in irgendeiner Form auf 3454 m ü. M. ihrer täglichen Arbeit nachgehen. Fast alle. Denn Sonja Stöckli und Thomas Furter müssen nicht täglich pendeln. Die Betriebswarte der Hochalpinen Forschungsstation arbeiten nicht nur auf dem Jungfraujoch, sie wohnen auch umgeben vom ewigen Schnee und Eis.
Forscher aus dem In- und Ausland
Angekommen am höchsten Bahnhof Europas, wartet Sonja Stöckli bereits auf uns. Wir laufen durch einen Stollen. Hier werden sich in Kürze zahlreiche Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt tummeln. Dann biegen wir rechts ab. «Kein öffentlicher Zutritt», steht auf einem Schild an der Türe. Es ist der Eingang zur Hochalpinen Forschungsstation. Hier treffen wir auch Thomas Furter, den Partner von Sonja Stöckli. Im Aufenthaltsraum gibt es Kaffee – und Wasser. «Trinkt viel», rät uns Sonja Stöckli. «Die Höhe ist nicht zu verachten.» Die 56-Jährige spricht aus Erfahrung. Hunderte Forscher aus dem In- und Ausland waren hier schon zu Besuch. Diese zu empfangen und zu betreuen, gehört zu ihren Aufgaben als Betriebswartin. «Wenn wir Übernachtungsgäste haben, mache ich die Zimmer bereit», erzählt sie. Neun Einzel- und ein Dreierzimmer verwaltet sie im fünfstöckigen Gebäude. Aber auch viele administrative Arbeiten erledigt Sonja Stöckli. Oder anders ausgedrückt: Sie ist Buchhalterin, Rezeptionistin, Reinigungskraft und Telefonistin in einem. Und Meteorologin – doch dazu später mehr.
Von der Auszeit zum Traumjob
«Etwas verrückt sein», steht auf der eigenen, kleinen Webseite von Sonja Stöckli und Thomas Furter in der Rubrik «Über uns». Das beschreibt die letzten Jahre der beiden ganz gut. Sie, die gelernte Pflegefachfrau und er, der gelernte Elektroingenieur wollten «raus aus dem Hamsterrad». 2020 nehmen sie sich eine längere Auszeit. In fünf Monaten wandern sie von der Schweiz nach Nordalbanien. Ein Jahr später geht es zu Fuss von Griechenland durch den Balkan. Und dann, zurück in der Schweiz, stossen sie auf das Stelleninserat der Forschungsstation auf dem Jungfraujoch. Gesucht wird ein Ü50-Paar mit guten Englischkenntnissen. «Die Bereitschaft, einen eintägigen Kurs für Arbeiten am Seil, einen – je nach Vorkenntnissen – zwei- bis viertägigen Staplerfahrkurs sowie einen 2-tägigen meteorologischen Kurs zu besuchen, wurde ebenfalls vorausgesetzt», erfahren wir von Thomas Furter. Etwa 50 Paare bewerben sich, Sonja Stöckli und Thomas Furter erhalten den Zuschlag. Am 1. Juni 2022 ist ihr erster Arbeitstag auf dem Jungfraujoch. Nach einer Woche Einführung sind sie auf sich allein gestellt. Zumindest fast. Den Job als Betriebswarte teilen sich die beiden mit einem anderen Paar. Im 15- bis 18-Tage-Rhythmus wechseln sie sich ab. Einmal pro Jahr gibt es für jedes Paar eine längere Pause von drei Wochen. Beim «Schichtwechsel» nach etwas mehr als zwei Wochen tauscht man sich jeweils kurz aus, «und auch die Mitarbeiter der HFSJG (Internationale Stiftung Hochalpine Forschungsstationen Jungfraujoch und Gornergrat, Anm. der Redaktion) an der Uni Bern unterstützen uns», erfahren wir von den beiden.
Schnee schaufeln – auch im Sommer
Thomas Furter ist für die Forschungsprojekte, den technischen Unterhalt und die Infrastruktur zuständig. Seine Arbeit beginnt morgens häufig bereits um 6 Uhr – mit Schnee schaufeln auf der Sphinx. «Anderthalb Meter Neuschnee – das kann im Winter schon mal vorkommen», erzählt der 55-Jährige. Und ja, auf fast 3500 m ü. M. schneit es auch im Sommer. «Leider nicht mehr so häufig wie früher. Aufgrund der Klimaerwärmung kommt der Niederschlag im Sommer auch oft in Form von Regen herunter.» Das Vordach ihrer Wohnung in der Forschungsstation muss – gesichert an einem Seil – ebenfalls regelmässig vom Schnee geräumt werden. Heute nicht. Generell ist es ruhig an diesem Mittwochmorgen. «Es gibt Tage, da arbeiten wir 12 Stunden. Es gibt aber auch Tage, da habe ich Zeit, gemütlich ein Buch zu lesen», sagt Sonja Stöckli. Doch zurück zur Arbeit. Zwei bis drei Mal pro Woche führen sie Besuchergruppen auf Deutsch und Englisch durch die Forschungsstation und die Sphinx. Heute kommen wir in den Genuss einer solchen exklusiven Führung. Treppensteigen ist angesagt, ganz schön anstrengend auf dieser Höhe. Wir müssen einen Gang zurückschalten. Unser Ziel ist der vierte Stock, die Bibliothek. Hier befinden sich – natürlich – viele Bücher. Und Aufzeichnungen zu Forschungen bis zurück ins 19. Jahrhundert.
Fast 100 Jahre alt
Ja, die Geschichte der Forschungsstation reicht zurück bis ins 19. Jahrhundert – und ist eng mit dem Bau der Jungfraubahn verbunden. Als Adolf Guyer-Zeller für den Bau, der 1896 begann, die Bewilligung erhielt, sicherte er in der Konzession zu, wissenschaftliche Forschung auf grosser Höhe zu ermöglichen. 1912, neun Jahre später als geplant, wurde die Bahn fertiggestellt. Und ab diesem Zeitpunkt begannen Forscher von den Möglichkeiten dieses aussergewöhnlichen Standortes zu profitieren. Bald kamen Diskussionen über den Bau einer Forschungsstation auf. 1931 wurde diese dann Tatsache.
Die Ausrichtung der Forschung hat sich über die vergangenen Jahrzehnte gewandelt. Zu Beginn standen Astronomie und Strahlungsforschung im Fokus, auch physiologische Projekt fanden statt. Heute ist es die Umwelt- und Klimaforschung.
Von radioaktiven Messungen und Flüssigstickstoff
Wir folgen Thomas Furter auf Schritt und Tritt. Bei all diesen Gängen, Treppen, Türen und Stollen würden wir uns sonst ziemlich schnell verirren. Er zeigt uns eines der fünf Labore. Hier nimmt er manuell Radioaktivitätsproben. Mit zwei einfachen Messaufbauten werden seit Jahrzehnten zwei radioaktive Isotope (Kohlenstoff 14C und Edelgas Krypton 85Kr) gemessen. Diese Messungen dienen der Überwachung der Atmosphäre. Gleich daneben stellt er Flüssigstickstoff her. Dabei wird der Stickstoff aus der Luft auf -196°C verflüssigt, mit einer Anlage aus den 1960er Jahren. Der Flüssigstickstoff wird für zwei Experimente benötigt, unter anderem zur Gewinnung der radioaktiven Krypton 85Kr Isotope. Gespannt hören wir seinen Ausführungen zu.
Sicht gleich Null
Thomas Furter schaut auf die Uhr. «Zeit zum ‹Wättere›», sagt er. So nennen die Betriebswarte die Wetterbeobachtungen, welche sie fünf Mal pro Tag für MeteoSchweiz durchführen. Wir holen Sonja Stöckli ab, die gerade damit beschäftigt ist, Bettbezüge zu waschen. Von der Forschungsstation begeben wir uns zur Sphinx. Im Stollen tummeln sich jetzt die Touristen. Wir nehmen den alten Aufzug hoch zum Observatorium, um dem Trubel etwas aus dem Weg zu gehen. So sehr wir uns auf die Aussicht an diesem exklusiven, für Touristen nicht zugänglichen Ort auf dem Dach der Sphinx gefreut haben, so sehr sind wir nun enttäuscht. Nebel. Sicht gleich Null. In weniger als einer Minute ist die Wetterbeobachtung zu Ende, ist diese im Tablet eingetragen. «Bei schönem Wetter sieht man 120 km weit, bei klaren und trockenen Verhältnissen im Winter sogar bis 170 km weit, bis ins Elsass», sagt Thomas Furter. Im Moment für mich gerade ein schwacher Trost.
In Bern ist die Luft gut, aber…
Das Sphinx-Observatorium beinhaltet zwei weitere, grosse Labore, eine Wetterbeobachtungsstation, eine Werkstatt, zwei Terrassen für wissenschaftliche Experimente sowie eine astronomische und eine meteorologische Kuppel. Hier befindet sich auch eine vollautomatisierte Feinstaub-Messstation des Bundes. Alle zwei Wochen wechselt Thomas Furter die Filter aus – und schickt sie zur genaueren Auswertung ein. Wir erfahren: Auch wenn die Luft in Bern grundsätzlich gut ist, der Vergleich zu jener auf dem Jungfraujoch ist dann doch frappant. Oder ein Filter sagt mehr als tausend Worte.
Messgeräte, Messgeräte und noch mehr Messgeräte befinden sich in einem anderen Raum der Sphinx. Kabel, Stecker, Bildschirme – das Datenvolumen, welches hier erfasst wird, ist enorm. «Alles automatisiert», sagt Thomas Furter. Periodisch kommen Forscher, um Wartungs- und Reparaturarbeiten durchzuführen. «Kleinere Störungen kann ich auch selbst beheben.»
Ein Kühlschrank der besonderen Art
Mein Magen macht sich bemerkbar. Zum Glück ist Mittagszeit. Wir begeben uns zurück ins Forschungsgebäude, ins Zuhause von Sonja Stöckli und Thomas Furter. Beide Betriebswarte-Paare haben auf unterschiedlichen Stöcken ein eigenes Schlafzimmer. Wohnzimmer und Küche werden geteilt. In der Stube steht ein Fitnessvelo. «Sonja braucht das regelmässig», erfahren wir von Thomas Furter. Speziell ist die «Kühlschrankerweiterung», wie sie die Öffnung hin zum Stollen nennen. Hier ist es das ganze Jahr über konstant genügend kalt. Lebensmittel bestellen die Betriebswarte per Mail im Coop Wengen. Eine Dienstleistung, die der Laden anbietet. Geliefert werden sie von der Jungfraubahn. Gewusst? Mit 3801 verfügt das Jungfraujoch über eine eigene Postleitzahl. «Wenn wir etwas bestellen, wird manchmal wegen der Lieferadresse nachgefragt», sagt Sonja Stöckli – und lacht. Doch zurück zum Grund, wieso wir hier sind. Dem Mittagessen. Gekocht wird im Hause Stöckli/Furter meistens nur am Abend. «Zum Zmittag gibt es in der Regel einfach Brot und Käse.» So auch heute. Wir gönnen dem Paar die verdiente Pause. Auch weil unser Hunger nicht weniger wird, wenn wir den beiden beim Essen zuschauen. Wir stärken uns auch – inmitten der Touristen, was für ein Szenenwechsel. Danach werden wir selbst kurz zu Touristen – machen einen Abstecher zum Eispalast und zum Plateau. Und wir stellen fest, der Nebel lichtet sich.
Von Cirrocumulus bis Stratocumulus
Bis ins Elsass sehen wir noch nicht, aber es hat sich definitiv gelohnt, dass wir auch am Nachmittag noch einmal beim «Wättere» dabei sind. «Sicht etwa 15 Kilometer», sagt Sonja Stöckli. «7/8 bewölkt, Nebel, schneebedeckt, mit Nassschnee», sagt Thomas Furter. Seine Partnerin nickt zustimmend, und ergänzt: «Altocumulus-Wolken auf etwa 3700 Metern, Cirrocumulus-Wolken auf 7000 Metern. Die sind sehr selten.» Auch Stratocumulus-Wolken entdeckt Thomas Furter, «aber nicht aus einer Gewitterwolke». Wie Meteorologie-Profis hören sich die beiden an.
Auf dem Dach der Sphinx haben sie übrigens auch Freunde gefunden, gefiederte Freunde. Die Alpendohlen freuen sich immer über einen kleinen Snack – und kennen keine Berührungsängste.
Zurück im Innern der Sphinx gibt Sonja Stöckli das Beobachtete fein säuberlich ins Tablet ein. Bei Unsicherheiten können sie oder Thomas Furter hier den Feldstecher zur Hilfe nehmen.
Allein zu zweit
«Die Lage inmitten der Berge, die Aussicht, die Abwechslung, die interessanten Leute, die wir kennenlernen. Einfach ein einmaliger Ort zum Arbeiten», sagen Sonja Stöckli und Thomas Furter unisono. Und ein ebenso einmaliger Ort zum Wohnen. «Aber», so die Ostschweizerin, «wir müssen auch Abstriche machen. Am Abend ins Restaurant, ins Kino, Freunde treffen, das geht nicht.» Ihre sozialen Kontakte pflegen die beiden während der freien Tage im Tal, in ihrem zweiten Zuhause in Flawil. Und: «Die Einsamkeit muss man mögen. «Nach Betriebsschluss oder wenn die Bahn wegen schlechtem Wetter nicht fährt, sind wir wirklich ganz allein.» Zu zweit allein. Eigentlich sogar zu dritt. Ein Mitarbeiter der Jungfraubahnen bleibt jeweils nachts auch auf dem Berg.
Wir machen uns auf den Heimweg. Um 18.15 Uhr verlassen auch die letzten Touristen das Jungfraujoch. Kurz darauf – in der sogenannten Mitarbeiterverbindung – alle, die heute in irgendeiner Form auf 3454 m ü. M. ihrer täglichen Arbeit nachgegangen sind. Fast alle. Sonja Stöckli und Thomas Furter bleiben zurück.
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